„Als die Mauer fiel, freuten sich viele, anderen wurde es schwindelig.“ – May Ayim

Auch dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist das Bild, das wir uns von diesem zentralen Ereignis der jüngeren Geschichte machen, noch unvollständig. Szenen jubelnder Menschen am Brandenburger Tor prägen das offizielle Erinnern an die Wende. In weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft in Ost und West wurde gefeiert. Aus dem Bürgerrechtler*innen-Slogan „Wir sind das Volk“ wurde die nationale Parole „Wir sind ein Volk“.

Nicht allen war nur nach Feiern zumute. Ein Großteil der Menschen, die in der DDR als Vertragsarbeiter*innen tätig waren, verloren ihre Arbeitsverträge und Aufenthaltsgenehmigungen. In Schwarzen, jüdischen und migrantischen Communities in Ost und West wuchsen Sorgen und Unbe- hagen. Die Schwarze Lyrikerin und Aktivistin May Ayim beschreibt die Zeit nach dem Mauerfall als beängstigend: „Als die Mauer fiel, freuten sich viele, anderen wurde es schwindelig.“ Es häuften sich rassistische und antisemitische Anfeindungen. Offenkundig verlangte die neue Einheit nach neuen Ausschlüssen – Menschen, die nicht mitgemeint waren, wenn vom „Wir“ die Rede war.

Diese andere Seite der Wende kündet von Schwindel statt von Freudentaumel, von Ausgrenzung statt grenzenloser Freiheit – eine Seite, die häufig nicht beachtet, überhört, überschrieben wurde.

In unserer Online-Ausstellung zeigen wir zwei künstlerisch-dokumentarische Positionen, die zum Zuhören auffordern.
Die in ihnen versammelten Perspektiven ergeben ein vielschichtiges, uneiniges Bild der deutschen Einheit. Geschichten von Hass und Gewalt werden als Kapitel der Wende-Erzählung sichtbar – und werfen auch Fragen zum Zusammenleben in der Gegenwart auf.

Bild: Berliner Mauer, aufgenommen am 10.11.1989. Von West nach Ost fotografiert. Im Hintergrund das Brandenburger Tor. Hans-Günter Kleff / DOMiD-Archiv, Köln